Tradition im Beaujolais – viele Fragen, wenig Antworten

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Stephan Bauer ist durch das Beaujolais gereist und klärt uns zunächst einmal umfassend darüber auf, was Beaujolais eigentlich ist und nicht ist und was das mit Traditionen zu tun hat:

Tradition ist ein schöner Begriff, denn er ist deutlich positiv belegt. Aber auf die Frage, was in bestimmten Regionen wirklich traditionell sei, wird man zahlreiche unterschiedliche Antworten bekommen. Beim Wein hat die Tradition durchaus eine nicht ganz unwichtige Bedeutung. Wer auf einem Etikett „Cuvée Tradition“ liest, kann damit gleich etwas assoziieren. Typizität kommt mir dabei in den Sinn, eventuell auch eine gewisse Bäuerlichkeit.

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Beaujeu vue de la Croix de Rochefort, Copyright: beaujolaisvignoble.com

Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Weinwelt der letzten zehn Jahre, die in vollem Gange und noch längst nicht abgeschlossen ist, kommt der Tradition eine zunehmend größere Bedeutung zu. Dieser Bedeutungswandel der Tradition ist Teil der Veränderungen, galt Tradition im Weinbau doch bis vor wenigen Jahren noch eher als Hemmnis, war ein Synonym für fehlende Dynamik. Gerade in den Übersee-Ländern mit geringer Weinbautradition schien plötzlich alles möglich. Wie ein Wein bereitet wurde, war nebensächlich. Wichtiger war die Frage, wie der Wein schmeckte und was die Profikritiker dazu sagten. Wer in Frankreichs wichtigster Weinbaugegend, dem Bordelais, nicht technisch aufrüstete, wurde für hoffnungslos veraltet gehalten.

All das hat sich stark verändert. Seit mehreren Jahren verwenden Winzer, Weintrinker und Medien andere Begriffe: Typizität, Terroir, Herkunft. Dabei ist Terroir das Schlagwort, doch auch die Tradition wird wichtiger. Einige der neuen Superstars der Weinwelt verwenden die Etiketten, die schon ihre Altvorderen verwendeten, erzeugen ihre Weine stark angelehnt an die Praktiken ihrer Eltern oder Großeltern und posaunen gerade nicht heraus, dass sie radikal mit der Vergangenheit brechen wollen. Foucault (Clos Rougeard), Raveneau in Chablis oder Reynaud (Château Rayas) sind einige bekannte Namen, die für dieses Phänomen stehen. Ihre Weine sind weltweit so gefragt, weil die Weintrinker sich nicht nur einen guten Wein, sondern auch die Quintessenz ihrer Herkunft erhoffen (und meistens auch bekommen, wenn auch mit der Mühe einer intensiven Suche und zu mittlerweile sehr hohen Preisen). Gesucht werden traditionelle Weine.

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Chiroubles, Copyright: D. Gillet / Inter Beaujolais

Was in bestimmten Weinbaugegenden wirklich Tradition ist, ist allerdings nicht immer leicht zu sagen. Sind Mosel-, Saar- und Ruwerrieslinge, die durch technische Hilfsmittel, wie sie erst nach dem zweiten Weltkrieg wirklich massentauglich einsetzbar waren, in der Gärung gestoppt wurden, traditionell? Viele Leute würden Weine wie die von J.J. Prüm, Egon Müller oder von Schubert vermutlich schon als traditionell bezeichnen. Nach allem verkörpern sie am ehesten den international (jedoch nicht unbedingt national) gefragten Stil. Andere halten gestoppte Rieslinge für prinzipiell modern und gehen auf der Suche nach der wahren Tradition zurück in die ersten drei Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts, in denen Rieslinge so lange gärten, wie die Natur und das Klima im Keller es zuließen, zum Teil also vollständig (trocken) oder nicht vollständig (feinherb bzw. restsüß). Wer hat hier recht? Vermutlich beide Ansichten. Denn Traditionen kommen und gehen, überlappen sich, werden durch technischen Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklungen obsolet oder relevant.

Gamay und das Beaujolais
Was eigentlich im Beaujolais traditionell ist, lässt sich genauso schwer beantworten wie an Mosel, Saar und Ruwer. Es lohnt sich aber, sich die Geschichte des Weinbaus im Beaujolais  vor Augen zu führen, um besser zu verstehen, worauf sich Traditionen stützen. Eins ist gesichert: die traditionelle Rebsorte des Beaujolais ist die Gamay noir à jus blanc, eine Rebsorte mit roter Schale, aber weißem Saft. Im südlichen Beaujolais, wo sich mehr Kalkmergelböden finden, wird auch ein wenig Chardonnay angebaut. Auch Syrah findet sich im Beaujolais in homöopathischen Mengen. Dies ändert aber nichts daran, dass seit mehr als einem halben Jahrtausend die Gamay im Beaujolais dominiert. Ursprünglich wurde die Sorte mehr nördlich des Beaujolais im Burgund angebaut, bis Philipp der Kühne 1395 per Dekret den Anbau von Gamay im Burgund verbot, da er sie für das Burgund nicht für würdig erachtete. So landete die Gamay im Beaujolais, das mit seinen Granitböden ohnehin die besseren Voraussetzungen für den Anbau der Traube bietet.

Auch die Reblaus, die im Beaujolais in den 1870er bis 1890er Jahren nahezu den gesamten Rebbestand vernichtete, änderte nichts an der Vormachtstellung der Gamay im Beaujolais. Zwar wurde zwischenzeitlich eine Traube namens Noah weit verbreitet im Beaujolais angepflanzt, da sie resistent gegen die Phylloxera war. Als jedoch auch im Beaujolais das Umpropfen von Gamay-Reisern auf US-amerikanische Rebunterlagen gute Erfolge zeigte, verschwand peu-à-peu die Noah-Traube wieder. Ein weiterer Aspekt scheint schon seit mehreren Jahrhunderten den Anbau von Wein im Beaujolais zu prägen: die Gobelet-Erziehung der Gamay-Reben, d.h. die Erziehung als freistehende Buschreben. Diese Erziehung erlaubt praktisch nur Handlese, die zusätzlich mühsam ist, weil die Trauben an einem Gobelet-Rebstock relativ tief hängen. Ebenso wie in der Champagne ist im Beaujolais in allen zehn Crus und in der AOC Beaujolais-Villages die maschinelle Lese gar nicht erlaubt.

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Beaujolais vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg
Wie der Beaujolais vor 100 Jahren erzeugt wurde, lässt sich ohne tiefgehende Recherchen nur schwer verlässlich rekonstruieren, daher sind Aussagen über eine wirkliche Tradition schwer zu treffen. Ob der Ausbau in den traditionellen burgundischen 228 l Fässern (pièces) eine Rolle gespielt hat, ist schwer zu sagen. Zwar finden sich in dem Buch „Les Vins du Beaujolais, du Mâconnais et du Chalonnais“ von Victor Vermorel und anderen (1893) Angaben für Erntemengen ausschließlich in pièces. Dies war jedoch in der gesamten Region von Dijon bis Lyon die damals gängige Mengenangabe. Die Weinerzeugung wird in dem genannten Buch wie folgt zusammengefasst, was nicht für einen Ausbau in 228 l Fässern spricht:

Die Trauben werden in Holzkisten gesammelt und sodann in den Keller getragen. Man entrappt nicht, aber manche Winzer stampfen die Trauben, was mehr und mehr zunimmt. Hier und da werden die Trauben direkt in den Holzkisten gequetscht, bis die Traube zu Wein wird. Die Vergärung wird dann in offenen Bottichen vorgenommen; der Tresterhut wird mehrmals von einem Mann runter gedrückt, der in den Bottich hinabsteigt. Manche Winzer lassen den Tresterhut sogar dauerhaft im Most mit Hilfe eines Gitterrostes. Je nach Temperatur und Beschaffenheit des Weines, den man erzielen will, lässt man den Wein zwischen drei und sechs, manchmal sogar bis zu acht Tage, im Bottich. Der Wein wird in tonneaux [gemeint sind vermutlich Fässer bis max. 600 l] oder Fuderfässer abgezogen und während des ersten Monats alle acht Tage, danach alle 15 Tage aufgefüllt. […] Im März des Folgejahres wird der Wein das erste Mal abgezogen, um ihn von der Grobhefe zu trennen. […] Manchmal erfolgt ein zweiter Abzug im Juni. Während dieses zweiten Abzugs erfolgt häufig eine Eiweißschönung des Weins. Schließlich erfolgt im August der Abzug auf die Flasche gepaart mit einer Eiweißschönung.

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Vermutlich änderte sich hieran bis mindestens zum Ende des zweiten Weltkrieges auch nichts Wesentliches. Die Weine der Beaujolais Crus genossen in dieser Zeit einen guten Ruf. Schaut man sich Restaurant-Weinkarten aus den 1910er und 1920er Jahren an, so erreichten die Preise der beiden heutigen Crus Moulin-à-Vent und Fleurie zwar nicht – wie manchmal kolportiert – das Niveau der Grand Crus aus dem Burgund, jedoch schon in etwa das preisliche Niveau von Village Weinen aus renommierteren Dörfern im Burgund wie Pommard, Volnay oder Nuits Saint Georges. Allerdings wurde auch in der Zeit zwischen 1900 und dem zweiten Weltkrieg schon die Art von Beaujolais erzeugt, die heute regelmäßig mit dem Beaujolais Nouveau in Verbindung gebracht wird: schnell vergorener, leichter, süffiger Rotwein. Dieser wurde bis zum zweiten Weltkrieg jedoch hauptsächlich vor Ort und in den Bouchons in Lyon konsumiert. Zunächst war der Beaujolais Nouveau lediglich die Belohnung für die Erntehelfer und die Winzer selbst. 1938 wurde festgelegt, dass der Beaujolais nicht vor dem 15. Dezember nach der Ernte vermarktet werden durfte.

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Copyright links: Stephan Bauer / Copyright rechts: D. Gillet / Inter Beaujolais

Georges Duboeuf und der Beaujolais Nouveau
Nach dem zweiten Weltkrieg begann der vorübergehende Niedergang des Beaujolais mit zwei herausragenden Jahrgängen, nämlich dem 1945er und dem 1947er. Beide Jahrgänge zeichneten sich durch eine hohe Traubenreife und eine höhere Alkoholausbeute aus, als dies in anderen Jahrgängen der Fall war. Einige Winzer berichteten von einer natürlichen Alkoholausbeute von über 15% Vol.

Der Winzer Jules Chauvet, zu ihm gleich mehr, berichtete sogar von einem Wein aus seinem Weinberg in Cercié, der 17% Vol. Alkohol ohne Chaptalisation erreichte. Der Überlieferung nach kamen diese beiden Jahrgänge bei den Kunden derart gut an, dass einige Winzer die Erfolge des 1945ers und des 1947ers auch in weniger guten Jahrgängen zu reproduzieren versuchten. Der Alkoholgehalt wurde durch Anreicherung des Mostes mit Zucker erhöht.

Ein wichtiges Jahr in der Geschichte des Beaujolais ist auch das Jahr 1951. Denn in diesem Jahr feierte Georges Duboeuf seinen 18. Geburtstag und legte den Grundstein für sein Beaujolais-Imperium, indem er eine Kooperative gründete, die kurze Zeit später aber wieder eingestampft wurde und durch ein Négociant-Business ersetzt wurde.

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Copyright: Stephan Bauer

Ebenfalls in diesem Jahr lockerte die Union Interprofessionnelle des Vins du Beaujolais die Regeln für die Vermarktung des Beaujolais und erlaubte selbige bereits ab dem 15. November eines Jahres. Damit war dem Beaujolais Nouveau als Massenphänomen der Weg geebnet. Was als lokale Eigenart begann, weitete sich zunächst nach Paris und dann in die ganze Welt aus. Medienwirksam rasten Händler und andere Verkäufer des Beaujolais Nouveau Anfang der 50er Jahre um die Wette nach Paris, um den ersten Wein des Jahrgangs in die Bars und Restaurants zu bringen.

Die Marketingmaschine kam langsam in Gang. 1964 gründete Georges Duboeuf sein eigenes Négociant-Geschäft. Zunächst verkaufte er Weißweine aus dem Mâconnais und diverse Beaujolais vor allem an die Restaurants in der Region, unter anderem an die Frères Troisgros und an Paul Bocuse. Anders als bei anderen Négociants schrieb Duboeuf überwiegend nicht nur seinen Namen auf das Etikett, sondern auch den Namen des Winzers. Dies beließ den Weinen eine gewisse Originalität. Gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre gewann der Beaujolais Nouveau an Bekanntheit außerhalb Frankreichs, so dass die weltweite Nachfrage stieg. Ja, die Welt konnte plötzlich nicht genug kriegen von diesem jungen, frischen, leicht zu trinkenden Rotwein, der sich wie ein Weißwein trank.

Bunte Etiketten, lebenslustige Poster und vor allem ein griffiger Slogan, der Lust auf den ersten Wein des Jahres machen sollte („Le Beaujolais Nouveau est arrivé), Aktionen in Bars und Restaurants setzten in England, in den USA, in Deutschland und in Japan einen run auf den Beaujolais Nouveau in Gang, der in den 1980er und 1990er Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Um dem Beaujolais Nouveau jährlich ein Wochenende widmen zu können, wurde 1982 der erste Vermarktungstag auf den dritten Donnerstag des Novembers gelegt, den Beaujolais Nouveau Day. Im Zentrum dieses Phänomens stand all die Jahre Georges Duboeuf, der in immer größerem Stil Trauben und Wein vor allem aus dem südlichen Teil des Beaujolais kaufte und als Beaujolais Nouveau vermarktete.

Für die Weinbauern bedeutete dies eine verlässliche und schnelle Einnahmequelle. Bereits wenige Wochen nach der Ernte konnten sie sich über volle Einnahmen freuen. Um den Beaujolais Nouveau jedes Jahr möglichst ähnlich schmeckend hinzubekommen, aber auch, um die Qualität innerhalb eines Jahrgangs so homogen wie möglich zu gestalten, industrialisierten sich die Vermarkter des Beaujolais die Weinbereitung zunehmend. Um ihm eine leichte Frische zu bewahren, wird der Beaujolais Nouveau mittels macération carbonique (Kohlensäuremaischegärung) erzeugt. Bei der macération carbonique werden die Trauben in ganzen Trauben mit den Stielen in die Gärbehälter gegeben und mit einer Schutzschicht aus CO² abgedeckt. Die erste Gärung findet mittels Enzymen innerhalb der Trauben statt, wodurch ca. 2% Vol. Alkohol entsteht. Sobald diese Gärung abgeschlossen ist und die Trauben beginnen, aufzuplatzen, werden die Trauben gepresst und zu Ende vergoren, jedoch mit nur sehr kurzem Schalenkontakt. Georges Duboeuf, aber auch viele andere Beaujolais-Nouveau-Erzeuger bedienten sich hierfür in den 1970er und 1980er Jahren einer bestimmten Reinzuchthefe, die den Weinen ein (fälschlicherweise als charakteristisch angesehenes) Bananenaroma verlieh. Diese Reinzuchthefe wurde ab ca. Mitte der 1980er Jahre auch bei Duboeuf nicht mehr eingesetzt, das Bananenaroma setzte sich aber bei den Kunden fest.

Laut vielen Winzern im Beaujolais war (und ist) der größte Fehler in der Weinbereitung aber die sogenannte Thermovinifikation, bei der die Maische kurz stark erhitzt und danach wieder runtergekühlt wird, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Farbstoff aus den Schalen zu extrahieren und so die Dauer des Schalenkontakts zu minimieren. Gepaart mit der Aufzuckerung zur Erhöhung des Alkoholgehalts auf den gewünschten Wert entstanden so viele Beaujolais Nouveau, die auch dem Qualitätsanspruch von Duboeuf nicht gerecht wurden, aber trotzdem auf den Markt geworfen wurden, um die Nachfrage nach Beaujolais Nouveau zu bedienen.

Mitte der 1990er Jahre wurde mehr als die Hälfte der Erntemenge im Beaujolais als Beaujolais Nouveau vermarktet, ein Großteil hiervon durch Georges Duboeuf. Dessen Firma kontrollierte auch einen durchaus wesentlichen Teil der Vermarktung von Beaujolais (nicht Nouveau), Beaujolais-Villages und den Beaujolais Crus, die teils nicht unter der Marke Georges Duboeuf, sondern unter teils historischen, teils neu geschaffenen Weinguts-Namen verkauft wurden. Wie in einer klassischen „Rise and Fall“ Geschichte hatte der Beaujolais Nouveau aber Mitte bis Ende der 1990er Jahre dann seinen Höhepunkt erreicht. Georges Duboeufs Firma wurde zudem in 2006 zu einer Geldstrafe verurteilt, da vorsätzlich Wein aus den zehn Crus mit Wein aus der AOC Beaujolais-Villages gemischt wurde, um letzteren in minderwertigen Jahren aufzuwerten. Dieser „Mini-Skandal“ war jedoch nicht wirklich der Grund dafür, dass der Beaujolais Nouveau wieder außer Mode kam. Der Grund dürfte eher darin zu suchen sein, dass Moden kommen und gehen und die Mode des Beaujolais Nouveau weitgehend vorbei war.

Jules Chauvet und die Rennaissance des Beaujolais
Der Schaden für das Beaujolais war jedoch angerichtet. Die Weinwelt verband mit dem Beaujolais als Region letztlich nur den Beaujolais Nouveau als süffiges, kühl zu trinkendes Kopfschmerzgetränk, den One-Night-Stand, den man am nächsten Morgen bereut (obwohl der Beaujolais laut Kermit Lynch an sich der vergnügliche One Night Stand sein soll. Lynch schrieb wörtlich: „Beaujolais should not be a civilized society lady; it is the one night stand of wines.“) Etliche Weinbauern hatten ihre Weinberge, nicht nur für den Beaujolais Nouveau, sondern auch für die Erzeugung der Beaujolais Crus durch den Einsatz von chemischen Herbiziden, Fungiziden und Düngern auf den größtmöglichen Ertrag getrimmt. Ihnen fehlten sowohl das Know-How als auch die technischen Mittel, um qualitativ hochwertige Weine zu erzeugen und zu vermarkten. All dies hatten ihnen jahre-, ja sogar jahrzehntelang Georges Duboeuf und andere Négociants abgenommen.

Der Wegbereiter für einen Weg aus der Krise lebte in Cercié, am Fuße des Mont Brouilly, wo er ein paar Hektar Weinberge bewirtschaftete. Jules Chauvet war aber nicht nur Winzer, sondern auch Chemiker und Autor. Sein Ziel war es, dem Beaujolais seine Seele zurückzugeben. Interessanterweise war diese Seele von dem Beaujolais Nouveau in seiner Prägung vor den 1960er Jahren gar nicht so weit entfernt. Das Idealbild Chauvets für einen Beaujolais hängt mit den Bouchons in Lyon zusammen, wo der Beaujolais lange Jahre der klassische unkomplizierte Begleiter für die deftige Küche des Lyonnais war und auch teils noch ist. Würste, Innereien, gepökeltes Schweinefleisch bedürfen eines Durstlöschers, keines strukturierten, komplexen, schweren Rotweins. Dieses Bild des unkomplizierten Speisebegleiters, des joie-de-vivre-Rotweins hatte Jules Chauvet im Kopf, als er Anfang der 1980er Jahre begann, den Beaujolais ähnlich, aber doch deutlich anders zu erzeugen, als dies Duboeuf & Co. zu der Zeit taten.

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Copyright: Stephan Bauer

Auch Jules Chauvet setzte auf die macération carbonique, allerdings in seiner Prägung, die als macération semi-carbonique bekannt ist. Dabei werden die Trauben nach der innerzellulären Gärung nicht gleich gepresst und von den Stielen getrennt, sondern der austretende Saft wird nach dem Platzen der Trauben wieder oben in den Bottich gepumpt, so dass der Saft etwas länger mit den Schalen und Stielen in Kontakt ist. Der große Unterschied zwischen der Weinbereitung Chauvets und derjenigen Duboeufs war, dass Chauvet auf Vieles, was die Weinbereitung vermeintlich einfach macht und standardisierte Produkte hervorbringt, verzichtete: Reinzuchthefen, Chaptalisation, künstlich zugesetztes CO², Stabilisatoren, Eiweißschönung, Filtration und vor allem auch die Zugabe von Sulfit. Chauvet war der Ansicht (die sich bei sorgfältiger Arbeit als richtig herausstellen sollte), dass die anärobe Gärung und der weitgehend oxidationsfreie Ausbau seiner Beaujolais für eine ausreichende Stabilität der Weine sorgt, so dass sich die Sulfitzugabe erübrigt.

Die Arbeit Chauvets legte nicht nur den Grundstein für die gesamte vin-naturel-Bewegung in Frankreich, sondern war zudem die Basis für den vielleicht wichtigsten, heute anzutreffenden Stil im Beaujolais. Die ersten bekannten Schüler Chauvets wurden von dem US-Importeur Kermit Lynch als Gang of Four betitelt und gewannen schnell in den USA eine eingefleischte Fangemeinde. Es handelte sich um Marcel Lapierre, Jean Foillard, Guy Breton und Jean Thevenet, alle vier aus Villié-Morgon. Sie erzeugten saftige, aber dennoch strukturierte Morgons, die mit macération carbonique erzeugt und unfiltriert, ungeschönt und ungeschwefelt abgefüllt wurden. In seinen Memoiren Adventures on the Wine Route schildert Kermit Lynch auf plastische Art und Weise, wie die vier Pioniere aus Villié-Morgon sich gegenseitig inspirierten, leichte Modifikationen in der Vinifikation austesteten und mit der Zeit ihren Stil fanden. Alle vier Betriebe sind noch heute aktiv, wobei Mathieu Lapierre nach dem Tod seines Vaters die Domaine übernommen hat.

Kann man aufgrund dieser Entwicklungen den Stil Chauvets und seiner Schüler als für das Beaujolais traditionell bezeichnen? Das ist schwierig – zumindest ist er nicht der traditionelle Stil, sondern repräsentiert eine von mehreren Traditionen. Wie sich als Gegenbewegung zu dem industriell geprägten Stil Duboeufs und des Beaujolais Nouveau der von Jules Chauvet inspirierte Stil herausbildete, zeigt aber, dass Traditionen und vermeintliche Traditionen stets im Fluss sind. Die Geschichte der Stilistiken im Beaujolais ist hier auch noch lange nicht am Ende.

Louis Jadot und die Ankunft der burgundischen Vinifikation
Der nächste wichtige Meilenstein erfolgte im Jahr 1996 mit dem Erwerb des Château des Jacques durch Louis Jadot, einem der großen Négociant-Häuser aus dem Burgund. Die Négociant-Häuser des Burgunds waren schon immer im Beaujolais aktiv. Häuser wie Mommesin besaßen nicht nur eigene Rebflächen, sondern kauften vor allem Trauben und Wein und nutzten ihre Vertriebskanäle, um den Beaujolais insbesondere an Supermärkte und die Gastronomie zu verkaufen. Der Erwerb des Château des Jacques durch Jadot ist gleichwohl ein Meilenstein aus mehreren Gründen. Erstens verfügt das Château des Jacques über substanzielle Parzellen in einigen der besten Lagen in der Appellation Moulin-à-Vent auf dem Plateau von Thorins bei der namensgebenden Windmühle: La Rochelle, Le Grand Carquelin, Rochegrès, Champ de Cour.

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Copyright: Stephan Bauer

Zweitens brachte das Team von Jadot deutlich burgundische Einflüsse in die Vinfikation des Beaujolais. Ende der 1990er Jahre herrschte im Beaujolais ganz klar die macération carbonique oder macération semi-carbonique (siehe oben) vor. Jadot ging einen anderen Weg und vinifizierte seine Moulin-à-Vents wie die Burgunder. Die Trauben wurden vollständig entrappt, erhielten eine Maischestandzeit von gut drei Wochen und wurden dann ca. ein Jahr in 228 l Fässern ausgebaut, anfangs mit beträchtlichen Anteilen an neuen Fässern. Mittlerweile wurde der Anteil an neuem Holz wieder runtergefahren, die Vinifikation ist ansonsten aber weitgehend gleich geblieben. Tatsächlich erinnern die Moulin-à-Vents des Château des Jacques eher an rote Burgunder als an Moulin-à-Vent, erst mit beträchtlicher Flaschenreife von zehn und mehr Jahren kommt der Charakter der Gamay besser durch, namentlich wenn das Holz verdaut ist. Neu seit wenigen Jahren ist bei Jadot, dass einige neu gepflanzte Reben in Guyot-Erziehung anstatt in Gobelet-Erziehung gepflanzt wurden. Ob dies Auswirkungen auf den Geschmack der Weine haben wird, bleibt abzuwarten. Ungewohnt ist der Anblick von Weinbergen ohne Buschreben im Beaujolais gleichwohl.

Dem Beispiel des Hauses Jadot sind mittlerweile einige Winzer aus dem Burgund gefolgt, so z.B. Thibault Liger-Belair (in Moulin-à-Vent), das Haus Henriot, denen im Chablis die Domaine William Fèvre und im Burgund das Haus Bouchard Père et Fils gehört (in Fleurie), Marie-Elodie Confuron-Zighera (in Morgon und Fleurie), die Familie Labruyère, denen im Burgund die Domaine Jacques Prieur gehört und die mit dem Jahrgang 2007 die Weinberge in Moulin-à-Vent wieder aus der Pacht in den Eigenbetrieb nahmen, oder Michel Lafarge (in Fleurie). Andere Neueinsteiger wie die Familie Parinet, die 2008 das Château du Moulin-à-Vent erwarben, setzen ebenfalls für die Spitzenweine auf eine burgundische Vinifikation.

Diese Bewegung stößt jedoch mittlerweile an ihre Grenzen. Sowohl die Domaine Labruyère als auch Thibault Liger-Belair entrappen nur noch einen Teil der Trauben für ihre Moulin-à-Vents und arbeiten bei dem Rest der Trauben mit macération semi-carbonique. Das Ziel ist es, regionstypischere Weine zu erzeugen, bei denen die Charakteristik der Gamay und auch die Frische besser herauskommen. Unter Umständen ist dieses Umschwenken auch darauf zurückzuführen, dass es den Winzern und Önologen aus dem Burgund anfangs darum ging, zu zeigen, dass Beaujolais Crus aus Top Terroirs sich hinter Pinot Noirs aus dem Burgund nicht zu verstecken brauchen, dass es also darum ging, aus der Gamay-Traube Weine zu erzeugen, die wie ein Top-Burgunder schmecken. Nachdem dies durchaus anerkannt wurde, kann sich jetzt darauf konzentriert werden, mehr an der Typizität zu arbeiten.

Ist die burgundische Vinifkation der Gamay nun für das Beaujolais traditionell oder nicht traditionell? Einige Winzer, für die die macération carbonique und der Ausbau in Holzfudern oder Betontanks die Tradition im Beaujolais darstellt, sind der Ansicht, dass kleine 228 l Fässer und entrappte Trauben im Beaujolais nichts zu suchen haben. Jean-Jacques Parinet entgegnet dem mit einem Blick in den Jahrhunderte alten Keller seines Château du Moulin-à-Vent und stellt die Frage, wie in diesen Keller mit niedriger Decke mehrere Hektoliter fassende Fuderfässer reinpassen sollen. Kleine Fässer scheinen also jedenfalls in den Weinbergen der AOC Moulin-à-Vent eine gewisse Tradition zu haben.

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Keller des Chateau du Moulin à Vent in Romanèche Thorins, Copyright: D. Gillet / Inter Beaujolais

Und was ist nun im Beaujolais traditionell?
Was ist jetzt am Ende dieser Reise traditionell im Beaujolais? Dem Beaujolais Nouveau lässt sich eine gewisse Tradition nicht absprechen. Viele Trauben wie Tannat, Cabernet Sauvignon oder Mourvèdre eignen sich gar nicht für die Erzeugung von Primeur-Weinen, da ihre Tannine die Erzeugung leichter, fruchtiger Weine zum jung trinken nicht zulassen. Auch der „Stil Chauvet“ hat sich mittlerweile bei so vielen renommierten Winzern durchgesetzt, dass man ihn getrost als traditionell bezeichnen kann. Ob der burgundische Stil im Beaujolais eine Tradition hat, lässt sich nur schwer sagen. Jedenfalls scheint er nur für eher gehaltvolle Weine aus Moulin-à-Vent und einige wenige Terroirs in Fleurie und Chénas geeignet.

Eine (positive) Entwicklung der letzten Jahre scheint aber nicht mehr aufzuhalten sein: die Diversifizierung der Produktion und die Abfüllung verschiedener Lagenweine. Auf den allermeisten Domaines im Beaujolais gab es früher für jeden Cru nur eine Abfüllung („Brouilly“ oder „Morgon“). Allenfalls noch gab es Sonderabfüllungen mit Fantasienamen, die von besonders alten Reben stammen oder in kleinen Holzfässern ausgebaut wurden („Cuvée Tradition“ oder „Elevé en fut de chêne“). Mittlerweile werden gerade bei den Crus, bei denen einzelne Lagen schon länger mit Namen bekannt sind, Weine aus verschiedenen Lagen bei vielen Winzern unter dem Lagennamen vermarktet. Diese Lagen sind – wie in Fleurie, Chénas oder Moulin-à-Vent – mal kleiner oder – wie in Morgon – mal größer.

Diese Entwicklung unterstützt die von der Vereinigung Inter-Beaujolais in Auftrag gegebene Bodenstudie des Geologie-Büros Sigales, die mittlerweile abgeschlossen ist und in mehreren detaillierten Karten der Lagen und Böden resultiert. Die Studie bietet nicht nur den Winzern, Händlern und Kunden die Möglichkeit, die einzelnen Bodenbeschaffenheiten zu erkennen, sondern soll auch als Vorbereitung für eine Abstufung der einzelnen Terroirs dienen. Geplant ist, dass auf lange Sicht ein System mit Premier Crus und evtl. auch Grand Crus geschaffen wird, in dem die höherwertigen Terroirs durch eine entsprechende Einstufung honoriert werden. Wie bei allen Lagenklassifikationen dürfte das System aber bei einigen Winzern auf Widerstand stoßen. Gerade in Moulin-à-Vent teilen sich einige der hochwertigsten Terroirs wie Le Carquelin, Le Clos du Moulin-à-Vent, La Rochelle, Champ de Cour oder Les Verillats auf nur wenige Erzeuger auf. Von der Klassifikation werden also voraussichtlich nicht alle Winzer profitieren.

Hinzu kommt, dass durch die unterschiedlichen Methoden der Vinifikation die Eigenheiten bestimmter Lagen schwer zu erkennen sind, da ein burgundisch vinifizierter Beaujolais generell anders schmeckt als ein mit macération carbonique vinifizierter Beaujolais. Gleichwohl sind schon jetzt und auch in der Jugend die Lagenunterschiede innerhalb des Portfolios einzelner Winzer gut erkennbar, gerade wenn entsprechende Hinweise der Winzer zu den Eigenheiten der Lagen vorhanden sind. So schmeckt zum Beispiel bei der Domaine Labruyère der Champ de Cour immer etwas konzentrierter als der Le Carquelin. Vergleichbar damit ist auch beim Château du Moulin-à-Vent der Champ de Cour immer etwas konzentrierter und gradliniger als der Croix des Verillats. Die Abfüllung verschiedener Lagenweine lohnt sich also auf jeden Fall.

Am Ende ist – wie so oft und glücklicherweise – auch im Beaujolais nichts in Stein gemeißelt und vieles möglich. Sollte ich jedoch meinen idealen Beaujolais auf mehrere Worte runterbrechen, so ist die von Würsten, Hühnern, Käse und Gartengemüsen geprägte Küche Lyons prägend. Der ideale Beaujolais ist ein leicht verdaulicher Wein, der lieber etwas zu süffig als zu gehaltvoll ist, komplex sein darf, dies aber nicht sein muss und vor allem für ein bäuerliches joie de vivre steht, das im Beaujolais auch an jeder Ecke zu finden ist.

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Ein paar typische Beaujolais

Cedric Chignard – Fleurie Cuvée Spéciale

Jean-Louis Dutraive – Fleurie En Champagne

Alain Coudert – Fleurie Clos de la Roilette Cuvée Tardive

Daniel Bouland – Morgon Vieilles Vignes

Marcel Lapierre – Morgon

Louis-Claude Desvignes – Morgon Côte du Py

Jean Foillard – Morgon Côte du Py

Bernard Diochon – Moulin-à-Vent Vieilles Vignes

Château des Jacques – Moulin-à-Vent Clos de Rochegrès

Richard Rottiers – Moulin-à-Vent Champ de Cour

Domaine Labruyère – Moulin-à-Vent Le Clos

Hubert Lapierre – Chénas Vieilles Vignes

Dominique Piron – Chénas Quartz

Domaine des Billard – Saint Amour Clos des Billards

Daniel Bouland – Chiroubles

Jean-Marc Burgaud – Chiroubles

Nicole Chanrion – Côte de Brouilly

Château Thivin – Côte de Brouilly Les 7 Vignes

Georges Descombes – Brouilly Vieilles Vignes

Raimon Jambon – Brouilly La Pointe des Einnards

Pierre-Marie Chermette – Beaujolais-Villages Coeur de Vendanges

Jean-Paul Brun – Beaujolais „L’Ancien“

7 Kommentare

  1. Hannes Hüfken

    Wow, was für ein guter Artikel! Vielen Dank. So einen Rundumschlag würde ich mir für viele Weinregionen wünschen. Vor wenigen Tagen, habe ich angefangen, mich zu fragen, was wohl Beaujeulais Noveau ist, und hier ist die Antwort in einer Form, die so gut ist, als hätte ich die Entwicklung selber miterlebt.
    Verständnisprobleme hatte ich übrigens keine, allerdings arbeite ich schon einer Weile an meinem eigenen Weingeektum. Ihr präziser und nicht nicht überladener Sprachstil gefällt mir auch sehr und sticht m.E. aus der Masse der rechtschreibschwachen und ungelenk formulierten Blogs angenehm heraus.

  2. Hannes Hüfken

    Das überflüssige erste Komma in meinem obigen Kommentar möge man mir, sofern bemerkt, nachsehen. 🙂

  3. Hannes Hüfken

    Tja, so ist das mit den Fehlern. Ich meinte das zweite.

  4. Eugen Hachenberg

    Wie sagte ich schon immer, auch in St.Lager : ” man kann sich nicht alles über Wein anlesen; auch ansaufen ist sehr wichtig.”
    Erst nach Verzehr der gehörigen Menge ist ein gefestigtes Urteil möglich!

    E.Hachenberg 17.07.2016

  5. Michael Albert

    Hallo zusammen,
    beim Lesen dieses Artikels – übrigens nach zweimaligem Urlaub (einmal 7 einmal 16 Tage) im Beaujolais (2021/2022) fiel mir ein Linkfehler auf. Bei dem im Artikel genannten Jean Thevenet handelt es sich nicht um den Chardonnay-Freak aus Viré-Clessé und seine Domaine Bongran (www.bongran.com), sondern um den gleichnamigen Urvater der heutigen Domaine https://www.petitperou.com (zugestanden ein eigentümlicher Name), nachzulesen hier https://www.petitperou.com/histoire.php. Thevenet ist im Übrigen im Beaujolais ein ganz häufiger Name, auch in Fleurie und in Chiroubles gibt es einige davon…

    LG

    Michael Albert

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